„Spinnen der Verführung, die in der Nase nisten“ oder die Frage, wie viel Orient man seinem Leser zumuten darf
- Sandra Göbel
- 25. Feb. 2024
- 2 Min. Lesezeit

Erst kürzlich kam mir bei einer Übersetzung aus dem Arabischen folgende Passage unter:
ولقد كانت حاجة البشرية للرسل أشدَّ من حاجتها للنَّفَسِ؛ فأيّ فائدة لشهيق يدخل أَنفًا عشعشت فيه عناكب الغواية والضلال؟ وأي حاجة لزفير ينفث البعد عن صراط العزيز الحميد؟
Wollte man dies möglichst textnah übersetzen, lautete das Ergebnis: „Die Menschheit brauchte die Gesandten dringender als das Atmen. Denn welchen Sinn hat das Einatmen, wenn es in eine Nase eindringt, in der die Spinnen von Verführung und Irrweg nisten? Und wozu diente das Ausatmen, wenn es lediglich die Ferne vom Weg des Allmächtigen und Ruhmeswürdigen verströmt?“
Ich hoffe, wir – Übersetzerkollegen wie Leser – sind uns einig, dass man eine solche Passage nun wahrlich niemandem aus dem deutschsprachigen Raum zumuten darf! Wie also bekommt man sie eingedeutscht?
In einem solchen – doch recht drastischen – Fall empfiehlt es sich, etwa zwei, drei Schritte von der Aussage zurückzutreten und zu überlegen, was der Autor durch sie faktisch ausdrückt. Was ist ihre Quintessenz? Was sind die Stilmittel, derer der Autor sich bedient, und kann ich diese übernehmen oder muss ich sie ggf. ersetzen oder gar weglassen, wenn es keine deutsche Entsprechung gibt?
In unserem Beispiel will der Autor verdeutlichen, von welch existenzieller Bedeutung es war, dass Gott immer wieder Propheten zu den Menschen geschickt hat. Und er bedient sich zu diesem Zweck eines Bildes, nämlich das des Atmens und seiner Sinnlosigkeit unter den gegebenen gottlosen Umständen.
Um dieses Bild wiederum zu malen, verwendet er verschiedene Elemente. An erster Stelle besagte Spinnen der Verführung und des Irrwegs, die in der Nase nisten. Dies ist ein Bild, das weder im Arabischen eine gebräuchliche Redewendung darstellt, noch im Deutschen auch nur annähernd verstanden wird. Zweitens die Ferne vom Weg Gottes, die das Ausatmen verströmt.
Spätestens ab hier ist nun der Künstler im Übersetzer gefragt, denn eine einzig richtige Lösung gibt es nicht. Eine mögliche lautet: „Die Menschheit brauchte die Gesandten dringender als die Luft zum Atmen. Was macht es schließlich für einen Sinn, überhaupt zu atmen, wenn jeder einzelne Atemzug einen immer nur weiter von Gott und Seinem Weg wegbringt?“
Und auch, wenn es bessere Lösungen als diese geben mag, kann man sicher sein, dass sie dem Leser keinerlei Kopfschmerzen bereiten wird. Ja, dass er nicht einmal ansatzweise ahnen wird, welche Kopfschmerzen sie dem Übersetzer bereitet hat.
Und genau darin bestehen der Erfolg einer Übersetzung und ihre – wenn auch leider in der Regel unerkannt bleibende – Kunst.
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